Sieglinde Spinnenbein
Der Wecker auf dem Nachttisch klingelte. Unter der dicken Bettdecke gähnte jemand ganz laut, bevor ein Kopf darunter hervorkam. Sieglinde war erwacht. Sie streckte ein, zwei, drei und vier Beine auf der einen und dann das fünfte, sechste, siebte und achte Bein auf der anderen Seite ihres kugeligen Körpers. Dann kroch die kleine Spinne langsam aus dem Bett. Sie rieb sich ihre acht Augen, mit denen sie sich noch ganz müde im Spiegel betrachtete.
»Du hast auch schon mal schärfer ausgesehen.«, kommentierte sie ihr Ebenbild und musste kichern. Sie setzte sich ihre Brille mit den dicken Gläsern auf und bekam endlich wieder einen richtigen Durchblick »Wenn ich die doch nur in der Nacht tragen könnte, dann wären meine Träume bestimmt viel deutlicher zu erkennen.«
Sieglinde gähnte ein weiteres Mal und wünschte sie, wie sie es an jedem Morgen tat, eine große Tasse Kaffee. Aber ihre Wohnhöhle war einfach zu klein für eine Kaffeemaschine.
»Dann schaue ich einfach mal nach, ob mir die Nacht ein leckeres Frühstück bereitet hat. Vielleicht hat sich in meiner Falle ein dicker Brummer, eine Motte oder eine Mücke verfangen.«
Auf ihren acht Beinen trippelte die Spinne durch die Tür und warf einen prüfenden Blick auf ihr Netz, das nur einen Kieselsteinwurf entfernt zwischen zwei Ästen gespannt war.
»Huch! Was ist denn das?«
Sieglinde nahm ihre Brille ab, putzte alle acht Gläser einzeln, rieb sich über ihre acht Augen und setzte sich das Gestell wieder auf die Nase. Sie schaute ein weiteres Mal auf ihr feines Geflecht.
»Es ist so ganz anders aus, als ich es in Erinnerung habe.«
Über Nacht hatten sich Tautropfen auf den feinen Spinnenfäden gebildet, die in der Kälte der Herbstnacht gefroren waren. Nun glitzerten die Eiskristalle im Schein der Morgensonne.
»So kann ich auf keinen Fall Insekten fangen. Die Kristalle überdecken meinen Klebstoff. Jetzt muss ich das alles sauber machen.«
Sieglinde stellte vorsichtig eines ihrer Beine auf einen Faden. Es klirrte leise.
»Oh, wow. Wie krass ist das denn?«
Sie zog an weiteren Fäden. Es klang, als würden hunderte Gläser aneinander gestoßen werden.
»Hm.« Sieglinde überlegte. »Ich habe da eine Idee.«
Sie flitzte schnell in ihre Höhle und kam mit einem Papier zurück. Es war ein Notenblatt. Das Lied, das dort geschrieben stand, versuchte sie schon seit ein paar Wochen zu singen. Aber sie konnte einfach den Ton nicht halten. Nun setzte sich die Spinne vor ihr vereistes Netz, schlug immer wieder sanft gegen die Fäden und brachte sie zum Erklingen. Schon bald wurde der Wald von einer wundervollen Melodie erfüllt, der jedem Tier ins Herz drang.
»Ich mag den Herbst.«, sagte Sieglinde zu sich selbst, als sie fertig gespielt hatte. »Der Herbst ist so schön bunt und bringt mich auf die besten Ideen.« Dann spielte sie ihr Lied noch einmal von vorn., bis die Sonne die die Eiskristalle geschmolzen hatte.
(c) 2023, Marco Wittler
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