1574. Die Entführung

Emmi ermittelt – Die Entführung

Die Nacht lag wie eine schwere, dunkle Decke über der Welt. Dicke Wolken bremsten jegliches Licht von Mond und Sternen aus. Am Boden konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Selbst die Grillen in den Wiesen schienen den Atem anzuhalten und gaben keinen Laut von sich. Nur ein einsamer Uhu, der auf einem Ast am Waldrand saß, gab ab und zu ein leises Huhu von sich.
Zu dieser Zeit lag Emmi im Bett in ihrem Kinderzimmer und schlief tief und fest. Sie befand sich mitten im Traumland, um dort einen spannenden Kriminalfall zu lösen. Also kleine Hobbydetektivin war das für sie die perfekte Nacht.
Plopp!
Die Stille wurde durch ein kleines Geräusch gestört, dass für normale Ohren kaum wahrnehmbar war. Doch Emmis Gehör war sehr empfindlich. Sie wachte augenblicklich auf, öffnete die Augen und blickte in die Tiefe der Dunkelheit.
»Wer ist da?« Sie bekam keine Antwort. »Ich weiß ganz genau, dass hier jemand ist. Ich habe dich gehört.« Nichts.
Emmis Hand glitt lautlos zum Nachttisch und drückte den Knopf ihrer Lampe. Schlagartig wurde es hell. Sie musste kurz die Augen zu Schlitzen schließen, bis sie etwas erkennen konnte. Auf den ersten Blick war niemand da.
Emmi stand auf, sah unter ihrem Bett nach, schaute in den Schrank. »Habe ich mich doch getäuscht? Aber woher kam dieses Geräusch? Das habe ich eindeutig nicht geträumt.« Sie grinste, weil sie einen Fall witterte, den sie als kleine Ermittlerin lösen musste.
Ein weiteres Mal nahm sie ihr gesamtes Zimmer unter die Lupe. Aber es fehlten jegliche Hinweise und Spuren. Wer auch immer sich in ihr Zimmer geschlichen hatte, musste ein absoluter Profi sein. So einer große Herausforderung hatte sie noch nie gegenüber gestanden. Emmi atmete scharf aus. Ein lauter Pfiff ging entstand hinter ihren Lippen.
»Huch! Was war denn das? Ich kann doch gar nicht pfeifen.« Da stimmte etwas nicht. Sie atmete mehrmals ein und aus. Das Geräusch blieb. Emmi tastete zuerst mit der Zunge, dann mit dem Finger ihren Mund ab. Sie riss die Augen auf, lief zum Wandspiegel und kontrollierte, was sie bereits erahnte. Ihr fehlte ein Zahn.
»Das war also das Plopp. Aber wo ist er hin? Ich muss ihn doch für die Zahnfee unter mein Kopfkissen legen.«
Emmi ging zum Bett, schüttelte Bettdecke und Kopfkissen aus, untersuchte ihr Laken. Der Zahn war nicht zu finden. Selbst im Teppich hatte er sich nicht versteckt.
»Na ganz toll. Jetzt hab ich meinen ersten Wackelzahn verloren und dann verschwindet er einfach. Das ist voll unfair.«
Sie dachte noch einmal nach. Ihr Blick verdüsterte sich. »Jemand hat meinen Zahn entführt. Es kann nicht anders sein.«
Emmi legte sich auf ihr Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte nach oben ins Leere.
»Hä? Was ist denn das?« An der Decke hing etwas Buntes.
Sie stand auf, stellte sich auf die Matratze und blickte zum Fund hinauf. Dort hing ein Schmetterling. Nein. Es sah nur wie ein Schmetterling aus, weil es ähnliche Flügel hatte. Der winzige Körper war aber eindeutig menschlich.
»Du bist eine Fee!«
Die Fee löste sich von der Decke und schwebte herab. Ihr Gesicht wirkte schuldbewusst. »Ich habe befürchtet, dass du mich entdecken wirst. Ich hab auf die Schnelle kein besseres Versteck gefunden.«
Sie griff in einen kleinen Beutel, der mit einem Gürtel an ihrer Hüfte befestigt war und holte einen Zahn hervor. »Ich hab ihn. Mein Terminkalender ist so voll, dass ich nicht mehr warten konnte, dass er von allein rausfällt.« Sie wurde rot im Gesicht.
Emmi legte die Stirn in Falten, dachte nach. Schließlich nickte sie. »Wäre wirklich Quatsch, wenn du extra noch einmal hierher kommen müsstest. Du kannst ja nichts dafür, dass sich mein Zahn zu viel Zeit gelassen hat. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es sehr anstrengend ist, mit deinen kleinen Flügeln weite Strecken zu fliegen.«
Die Zahnfee nickte. »Das ist mega anstrengend. Meine Kolleginnen sind ein ganzes Stück größer als ich und viel schneller. Ich wachse aber leider nicht mehr.«
Emmi grinste. »Ich habe da eine prima Idee. Hast du etwas Zeit?« Sie wartete keine Antwort ab, setzte sich stattdessen an den Schreibtisch und begann zu basteln. Nach ein paar Minuten hatte sie aus einem Blatt Papier zwei große Flügel ausgeschnitten und bunt angemalt. Sie befestigte noch an beiden einen Faden.
»Die kannst du wie einen Rucksack aufsetzen und mit deinen echten Flügeln steuern. Das macht dich ein ganzes Stück schneller.«
Die kleine Zahnfee war begeistert. Sie zog die Flügel über, drehte ein paar Runden und flitzte mehrmals um die Deckenlampe.
»Wundervoll. Einfach perfekt. Jetzt kann ich meine Aufgabe sehr viel schneller erledigen und muss keine Überstunden mehr machen. Das war eine geniale Idee von dir.«
»Dann kann ich ja wieder in mein Bett verschwinden und weiter träumen.« Emmi legte sich zurück ins Bett und zog die Decke bis zum Kinn. »Aber vergiss nicht, mir den Taler für meinen Zahn unter das Kopfkissen zu legen.«
Die Zahnfee nickte und verabschiedete sich, während Emmi laut gähnte, die Augen schloss und wenige Sekunden später eingeschlafen war.

(c) 2024, Marco Wittler

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