Dinowittchen
Es war einmal hoch oben im Land der langen Nächte ein Königreich, das auf ganz Pangaea bekannt war. In Ugrunaaluk Kuukpikensis lebte das junge Dinowittchen im Schloss ihres Vaters. Während der kalten Monate harrte es meist in seiner Kammer aus und dachte sich wilde Saurierabenteuer aus, die es gern erleben, sich aber bestimmt niemals zutrauen würde. Erst in den kurzen Sommern, in denen es wärmer wurde und eine gelbe Scheibe am Himmel hoch und runter kletterte, wagte sich das Dinowittchen ins Freie. Dort erkundete es die riesigen Farnwälder, deren Spitzen so hoch waren, dass sie beinahe in den Wolken verschwanden.
An einem dieser schönen Sommertage stand die Frau des Königs in ihren Gemächern und blickte mit Hass und Verachtung auf das Dinowittchen, dass gerade das Schloss verließ. Sie verabscheute das junge Ding dafür, dass es viel strammere Waden und einen hübscheren Plattenkamm auf dem Rücken hatte, als irgendein anderer Dinosaurier, den sie kannte.
»Schneewittchen ist viel zu schön für unser Königreich. Wäre sie bei der Geburt doch nur mit ihrer Mutter zusammen verstorben. Zum Glück gibt es viel hübschere Dinos als sie.«
Die Königin vernahm ein Räuspern hinter sich. Zu ihrer Überraschung war in ihrem Wandspiegel ein schemenhaftes Gesicht erschienen, das nicht ihr eigenes war.
»Ich muss euch widersprechen.«, sagte der Spiegel. »Ich habe schon wirklich viele Dinos gesehen, ich komme nämlich sehr weit herum. Ich kann euch bei der Kralle meines alten Mütterchens versichern, dass Dinowittchen weit und breit und im ganzen Land der schönste Dinosaurier ist. An sie kommt auch ihr nicht heran.«
Die Schuppen der Königin liefen dunkelrot an. Von ihren langen, scharfen Zähnen tropfte Geifer. In ihrer Wut griff sie zu einem Kerzenleuchter und wollte ihn gegen den Spiegel werfen. Im letzten Augenblick besann sie sich eines Besseren.
»Dich trifft keine Schuld. Aber ich muss dieses elende Dinowittchen loswerden.Man bringe mir den Jäger. Ich habe eine Aufgabe für ihn.
Etwas später konnte man beobachten, wie der Jäger das Dinowittchen im Schlossgarten aufsuchte und zu einem Spaziergang im Farn einlud.
»Und ihr kennt ganz sicher mir noch völlig unbekannte Wege, die ich kennenlernen sollte?«
Dinowittchen war begeistert. Jetzt konnte sie endlich ganz besondere Orte in der Umgebung kennenlernen. Doch schon nach wenigen Metern blieb der Jäger seufzend stehen.
»Ich kann das nicht. Es geht einfach nicht.« Mit einer Träne im Auge blickte er das Dinowittchen an. »Die Königin hat mir aufgetragen, dich in den Wald zu führen. Ich sollte dich hier töten, damit sie endlich der schönste Dino im Königreich wird. Was soll ich denn nur tun?«
Erschrocken riss Dinowittchen ihr Maul auf. Lange, scharfe Zähne kamen zum Vorschein und versetzten den Jäger in Panik. Er rannte um sein Leben und wurde niemals wieder gesehen.
»Ihr müsst doch vor mir keine Angst haben.«, entschuldigte sich Dinowittchen. »Ich lebe schon seit Jahren vegetarisch.«
Traurig setzte sie sich auf den Waldboden und dachte nach. »Und was jetzt? Ich kann nicht mehr nach Hause gehen. Dort wird mich die Königin einsperren oder mir noch schlimmeres antun. Ich muss verschwinden. Am Besten verstecke ich mich hinter den sieben Vulkanen am Horizont. Dort wird sie mich niemals finden.
Das Dinowittchen kannte seine Stiefmutter schlecht. Die Königin suchte nach wenigen Tagen wieder ihren Spiegel auf, um ihm die wichtigste Frage überhaupt zu stellen. »Wer ist die Schönste im ganzen Land? Los, sprich zu mir.«
Im Spiegel erschien wieder das schemenhafte Gesicht. »Was soll ich sagen? Seitdem das Schneewittchen nicht mehr da ist, seit natürlich Ihr die Schönste in ganz Ugrudings … ähm … Ugrubums. Verdammt nochmal. Wer hat sich denn diesen komplizierten Namen ausgedacht?« Er seufzte. »Also Ihr seid hier die Schönste im ganzen Königreich.«
Die Königin lächelte zufrieden. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
»Es gibt da allerdings eine Kleinigkeit, die ich Ihnen noch mitteilen müsste. Also das Dinowittchen, dass jetzt hinter den sieben Vulkanen bei den sieben Microraptoren lebt, ist trotzdem noch tausendmal schöner als ihr.«
Das Gesicht hob schützend die Arme vor sich, weil es eine erneute Attacke mit dem Kerzenständer erwartete. Doch die Königin hatte bereits ihre Gemächer verlassen.
»Dieser verdammte Jäger. Wie konnte er mich nur so hintergehen. Muss ich mich etwa um alles selbst kümmern?«
Einen Tag später klopfte es am Haus der sieben Microraptoren. Die kleinen Kerle waren gerade auf der Jagd und hatten Dinowittchen allein zurückgelassen. »Ich komme schon.« rief es und stampfte zur Tür.
Draußen stand ein altes Mütterchen, dem wohl schon der eine oder andere Zahn fehlte. »Ich bin eine alte, kranke Frau, die kaum noch etwas vom Leben hat. Kauft mir bitte etwas aus meinem Korb ab.«
Sie hielt ihr weniges Hab und Gut hoch. Dinowittchen sah ein paar Hühner, Mäuse und etwas, das nach einem abgebrochenen Mittagessen aussah. Es ekelte sie. Doch dann fiel ihr ein Kohlkopf ins Auge. »Prima. Den nehme ich. Dinowittchen langte zu und verschlang den Kohl in einem Stück.
Die Alte lachte, nahm das falsche Gebiss aus dem Maul und die Stachelperücke vom Kopf. Dinowittchen erkannte ihre Stiefmutter. Vor Schreck blieb ihr der Kohl im Halse stecken. Es bekam keine Luft mehr und kippte um.
»Jetzt bin ich endlich die Schönste im ganzen Land.«, triumphierte die Königin und machte sich laut lachend auf den Heimweg.
Dinowittchen war tot. Um ihrer großen Trauer Ausdruck zu verleihen, legten die sieben Microraptoren sie hinter den sieben Vulkanen in einen gläsernen Sarg. Sie wollten sie noch lange betrachten und weinen können.
In diesem Moment kam ein großer, stattlicher Dinosaurier des Weges. Er war in feinste Stoffe gekleidet und trug ein langes Schwert an seiner Seite.
»Mein Name ist Tyrannosaurus Prinz. Was ist dies für ein Glaskasten, den meine Augen dort am Fuße der Vulkane erspähen? Klärt mich auf!«
Die Microraptoren berichteten von den glücklichen Tagen mit Dinowittchen und dass sie sie am Abend tot aufgefunden hatten.
»Ich bin mir sicher, dass ich dieses unglückliche Ding erretten kann. Immerhin bin ich ein Prinz. In Märchen haben wir noch jedes junge Fräulein dem Tod entrissen. Ich werde ihr einen Kuss geben.«
Tyrannosaurus Prinz beugte sich herab. Doch statt seine Lippen auf die ihren zu drücken, stieß er mit seinem Kopf gegen den gläsernen Sarg. Verzweifelt versuchte er Dinowittchen zu greifen, sie an sich zu ziehen, doch seine Arme waren viel zu kurz. Er kam nicht an sie heran.
»Was ist das für ein schlechter Scherz, den ihr mit mir spielt?« Wütend sah er einen Microraptor nach dem anderen an. Ich werde euch schnappen und jeden einzeln verspeisen.« Doch dann fielen ihm erneut seine kurzen Arme ein und er gab auf. Wütend gab er dem Sarg einen Tritt, dass dieser umkippte. Schnell verschwand der Prinz im nahen Wald.
Dinowittchen aber fiel zu Boden und wurde ordentlich durchgeschüttelt. Der Kohlkopf, der in ihrem Hals steckengeblieben war, rutschte endlich weiter in den Magen. Dinowittchen kam sofort zu sich, atmete tief ein und war wieder unter den Lebenden.
(c) 2022, Marco Wittler
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