1626. Der Anton und Herr Fritte (01) – Das Buch der vergessenen Leuchttürme

Das Buch der vergessenen Leuchttürme

Tiktak. Tiktak. Tiktak.
In der Bibliothek war es beinahe still. Nur das beständige Ticken der alten Schrankuhr in der Zimmerecke und das regelmäßige Umblättern von Buchseiten rundeten die Atmosphäre ab.
Jemand klopfte. Herr Fritte, ein groß gewachsener grauweißer Kater, dem man den gesunden Appetit schon von Weitem ansah, blickte auf und schob seine Brille von der Nasenspitze nach oben. »Herein!«
Die Tür wurde geöffnet. Ein kleiner, aber stämmiger Kater mit grauweißem Fell und einem eng anliegenden, ärmelfreien Muskelshirt, kam herein. Mit dem auf seinem Oberarm tätowierten Anker und der langen Narbe, die quer über seine Nase verlief, sah er mehr als bedrohlich aus.
»Mein lieber Anton.«, sagte Herr Fritte. »Was kann ich für dich tun?«
Anton verneigte sich. »Es ist Zeit für die Teestunde, Sir.«
Herr Fritte zog die Stirn in Falten und sah auf die Schrankuhr. »Das kann nicht sein, es hat noch gar nicht …« In diesem Moment schlug die Uhr fünf Mal. »Anton, du bist wie immer die Pünktlichkeit in Person.«
Der kleinere Kater holte einen Servierwagen aus poliertem Messing in die Bibliothek. Darauf stand eine silberne Teekanne, drei Tassen, Milch, Zucker und eine Schale mit besonders schmackhaften Leckerlis. Er schenkte ein.
Herr Fritte legte ein Lesezeichen zwischen die Seiten und sein Buch auf der Fensterbank ab. Er griff zur ersten Tasse, hielt sie sich unter die Nase und genoss mit geschlossenen Augen den Duft. »So wundervoll. Katzengras. Wenn ich mich nicht irre, ist das die Ernte vom letzten Jahr.«
Anton grinste. »Es ist die vom vorletzten Jahr, Sir. Ein ganz besonderer Jahrgang.«
Es klopfte ein weiteres Mal. »Ja, bitte?«
Ein dritter Kater gesellte sich zu seinen Artgenossen. Wie auch schon die anderen, war er von einem weißgrauen Fell bedeckt, trug aber einen Anzug aus feinstem Zwirn. Im Gegensatz zu den anderen, war er von schwächlicher Natur, kleinem Wuchs und humpelte mit Hilfe zweier Krücken in den Raum. Um seinen Hals hing eine große, braune Tasche.
»Mister Little, herzlich Willkommen. Ich hoffe, es stört sie nicht, dass wir schon angefangen haben.«
Mister Little schüttelte den Kopf. Ich brauche eben ein wenig länger, besonders an Tagen, an denen sich ein Wetterumschwung ankündigt.«
Sie sahen alle gleichzeitig aus dem Fenster. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Dafür bot der Sonnenuntergang einen Horizont, der von einer zur anderen Seite in Flammen zu stehen schien, was am Meer äußerst unwahrscheinlich war.
»Mein sehr geschätzter Mister Little, darf ich sie noch einmal auf die Anschaffung eines Rollstuhls ansprechen? Ich weiß, dass das ein unangenehmes Thema ist, dennoch würde ein solches Gerät im Alltag sehr praktisch sein und viel Zeit einsparen.«
Mister Little ließ sich in einen der Sessel fallen, stellte die Krücken ab und schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, Sir, solang ich mich noch irgendwie selbst bewegen kann, nehme ich dies auch für mich in Anspruch. Es hält mich einigermaßen fit.«
Er öffnete die Tasche und holte einen Stapel Papiere heraus. »Da fällt mir ein, dass wir noch einige Unterlagen durchgehen müssen.«
Nun war es Herr Fritte, der den Kopf schüttelte. »Auch wenn sie mein persönlicher Assistent sind, der Beste, den man sich vorstellen kann, möchte ich noch hinzufügen, es gibt jetzt Wichtigeres. Wir haben Teezeit. Da lehnt man sich zurück, genießt das herrliche Aroma und spricht über die angenehmen Dinge des Lebens.«
Also tranken sie den Tee mit reichlich Milch und vergaßen schon bald die Geschäfte.
Erneut schlug die Uhr. »Schaut an, liebe Freunde. Es ist bereits sechs. Wir haben uns verquatscht. Draußen wird es bereits Nacht und schon bald wartet das Abendessen auf uns. Ich bin schon sehr gespannt, was es geben wird.«
Während Mister Little die Unterlagen in seine Tasche packte, es schickte sich nicht, nach Feierabend noch über Geschäftliches zu reden, brachte Anton das Teegeschirr fort. Herr Fritte griff wieder zum Buch und stutzte. Was war das für ein Licht am anderen Ende der Bucht? Es bewegte sich nicht vom Fleck, konnte also unmöglich von einem Kutschwagen stammen. Ein Haus gab es dort, seines Wissens nach, ebenfalls nicht. Für ein Lagerfeuer war es zu hell.
Er griff zu einem Messingglöckchen und klingelte. Nur wenige Augenblicke später stand Anton schon wieder in der Tür.
»Sie haben geläutet, Sir?«
»Anton, hole mir bitte mein Lexikon der Leuchttürme der Welt. Ich muss dringend etwas nachschlagen.«
Der kräftige Kater nickte, schob eine hohe Leiter auf Rollen an der Wand entlang, um vom obersten Regal ein dickes Buch zu holen. Gemeinsam blickten sie immer wieder vom Fenster auf die Seiten und blätterten weiter.
»Hab ich es doch gewusst.« Herr Fritte hatte den letzten Eintrag erreicht. »Dort drüben steht kein Leuchtturm. Zumindest ist hier keiner verzeichnet.« Er nahm seine Brille ab, was seine Augen sofort dazu veranlasste, unkontrolliert zu zittern. Die Pupillen bewegten sich aufeinander zu. Er begann zu schielen. »Was wäre, wenn hier nicht alle Leuchttürme der Welt verzeichnet sind? Kann es sein, dass welche vergessen, übersehen oder ausgelassen wurden?«
Er setzte sich die Brille wieder auf. Seine Augen beruhigten sich. »Anton, wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Entweder steht in unserer direkten Nachbarschaft ein Leuchtturm oder wir haben es hier mit einer übernatürlichen Erscheinung zu tun. Egal was es ist, wir gehen hin und schauen es uns an.«
Herr Fritte stand auf, legte seinen samtenen Abendmantel ab und ging zur Tür. »Los, los, wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Nacht wird nicht ewig währen.« Er schlüpfte in Stoffhose, Hemd, zog sich die Hosenträger auf die Schultern und knotete sich eine bunte Fliege um den Hals.
Während die beiden Kater das große Haus verließen, verschloss Mister Little sorgfältig das Haus.
»Ach, Anton, ist das nicht eine herrliche Nacht? Es ist mild, fast warm, der Mond geht gerade hinter dem Horizont auf und die Sterne funkeln am …« Weiter kam er nicht. »Was geht dort vor sich?« Herr Fritte nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und setzte sich das Gestell wieder auf die Nase. »Siehst du das auch, Anton?«
Anton nickte, während er nur langsam seinen offen stehenden Mund wieder schloss. »Die Sterne bewegen sich, Sir. Sie tanzen, die fliegen durch den Himmel und …«
»… versammeln sich offensichtlich an dem hellen Punkt am anderen Ende der Bucht. Das kann kein Leuchtturm sein. Nur, was ist es dann? Das ist ein unglaubliches Rätsel. Schnell, lass es uns ergründen.
Die Kater schlichen den Küstenweg entlang. Schnell fiel ihnen aber auf, dass die Entfernung einfach zu groß war. Sie wurden schneller, bis sie schließlich zu rennen begannen.
»Jetzt leben und arbeiten wir schon so lange an an diesem schönen Ort, warum haben wir uns eigentlich noch nie in der Umgebung umgesehen?«
Herr Fritte atmete schwer, keuchte. Es fiel ihm schwer, klare Worte herauszubringen, trotzdem musste er einfach die Fragen aussprechen, die ihm durch den Kopf gingen.
»Wir holen es jetzt nach.«
Herr Fritte wurde neidisch. Anton, der einen ganzen Kopf kleiner war, schien die Bewegung überhaupt nichts auszumachen. Er wirkte, als würde ihn das alles in keiner Weise anstrengen. Wie konnte ein einziger Kater nur so sportlich und durchtrainiert sein?
Sie waren fast am Ziel. Noch immer kamen die Sterne aus allen Himmelsrichtungen. Der leuchtende Punkt, den sie aus der Ferne entdeckt hatten, war so grell, dass man ihn kaum ungeschützt betrachten konnte. »Nur noch über diese kleine Anhöhe, dann können wir das Geheimnis in seiner vollen Pracht betrachten und es lüften.«
Die letzten Meter überwanden sie schleichend. Kaum hatten sie den höchsten Punkt erreicht, stockte ihnen der Atem. Da stand kein Leuchtturm. Es war auch kein Schiff aus dem Weltenraum gelandet. Dort waren dafür tausende und abertausende kleine Lichtlein, die hektisch umeinander wuselten und flogen.
Herr Fritte lächelte, während Anton wieder der Mund offen stand. »Wow, das ist völlig irre. Ist es das, was ich glaube?«
Herr Fritte nickte. »Das sind Glühwürmchen. So viele habe ich auch noch nie auf einem Haufen gesehen. Es müssen mittlerweile Millionen sein. Ich frage mich, was sie hier hier machen.«
Als hätten sie es gehört, lösten sich zwei von ihnen aus der Masse, flogen auf die Kater zu und schwirrten um ihre Köpfe herum.
»Das ist ein treffen der GdvG, der Gewerkschaft der vereinigten Glühwürmchen. Wir diskutieren über unsere Zukunft. Seit Anbeginn der Zeit stellen wir die Sternbilder dar, die Reisende sicher über das Meer führen. Doch seit es Leuchttürme gibt, beachtet man uns und unsere wichtige Arbeit in Küstennähe nicht mehr. Das ist für uns eine sehr traurige Entwicklung. Wir wissen nicht, was wir dagegen unternehmen sollen.«
Herr Fritte setzte sich und überlegte. In seinen Gedanken sah er das dicke Buch der Leuchttürme der Welt vor sich. Es gab rund zehntausend dieser imposanten Bauwerke.
»Ich weiß, wovon ihr sprecht, aber ich habe eine Idee. In meiner riesig großen Bibliothek in meinem Haus finden sich viele Bücher. Es gibt eines über Leuchttürme. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass einige darin vergessen oder ausgelassen wurden. Vielleicht sind diese abgeschaltet und verlassen worden, dabei ist jedes wegweisende Licht wichtig für die Seefahrer.«
Herr Fritte sah Anton an. »Unser letztes Abenteuer, mein treuer Freund, ist schon so lange her. Was hältst du davon, wenn wir auf Reisen gehen, nach den vergessenen Leuchttürmen suchen und darüber ein neues Buch schreiben? Die Glühwürmchen könnten sie beziehen, in ihnen leben und einer ganz neuen Aufgabe nachgehen.«
Antons Augen begannen begeistert zu glühen. Er nickte so heftig, dass Herr Fritte Angst bekam, er könne seinen Kopf verlieren.
»Seid ihr dabei?«
Die Glühwürmchen waren einverstanden.
»Dann brechen wir Morgen Abend gemeinsam auf.«
Die beiden Kater machten sich auf den Rückweg. Sie hatten neue Freunde gewonnen, den Beginn eines spannenden Abenteuers eingeläutet und die Idee zu einem Buch gefunden.

(c) 2024, Marco Wittler

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