654. Das Haus am Ende der Straße

Das Haus am Ende der Straße

Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden. Der Himmel wurde schnell dunkler und erste Sterne zeigten sich am Firmament. Lediglich der aufgehende Vollmond und einzelne Straßenlaternen beleuchteten noch die Straßen der Stadt, auf denen sich seit ein paar Minuten unzählige Monster, Gespenster, Mumien, Vampire, Monster und andere Gruselgestalten tummelten. Sie gingen von Haus zu Haus und von Tür zu Tür, um die dort lebenden Menschen zu erschrecken und dafür ein paar Süßigkeiten abzustauben. Es war nämlich Halloween und unter den schaurigen Kostümen steckten harmlose Kinder. Manche von ihnen waren mit ihren Eltern unterwegs, die anderen allein mit Freunden.
Ein paar dieser Kinder waren Mia, Lena, Hannah und Sofie. Sie hatten sich lange im Voraus abgesprochen und waren nun als Zombieprinzessinnen unterwegs.
Seit einer halben Stunden gingen sie nun schon durch die Stadt und hatten schon sehr viele Bonbons und Schokolade in ihren Sammeltaschen. Das war natürlich eine gute Sache. Aber ihr eigentliches Ziel hatten sie bisher noch nicht angesteuert.
»Wann machen wir es endlich?«, drängelte Mia immer wieder.
»Ach, ich weiß nicht. Meinst du wirklich, dass das so eine gute Idee ist?«, versuchte Lena drum herum zu kommen.
»Die Jungs haben sich das noch nie getraut. Wenn wir das machen, zeigen wir ihnen, dass wir mutiger und cooler sind als sie.«, versuchte Hannah, die anderen zu überzeugen.
»Es kann doch eigentlich nichts passieren, oder?«, war Sofie unsicher. »Ich meine, es ist ja nur ein Haus. Wir gehen hin, klopfen, holen uns was Süßes und verschwinden ganz schnell wieder.«
Okay, schnell wieder verschwinden, damit konnten sich die Mädchen anfreunden. Was sollte da schon schiefgehen? Trotzdem drückten sie sich davor, den richtigen Weg einzuschlagen. Sie blieben weiter auf der eingeschlagenen Route und klapperten die Häuser ihrer Straße ab.
Die Zeiger auf der Rathausuhr am Ende der Straße rückten immer weiter vorwärts. Sie Zeit verging wie im Flug. Die Mädchen mussten bald nach Hause gehen.
»Jetzt oder nie!«, stachelte Mia die anderen an. »Also was ist jetzt mit euch? Wollt ihr kneifen oder seid ihr dabei? Ich will es jetzt tun.«
Die anderen waren immer unsicherer geworden. Angst hatten sie schon. Aber sie wollten auch nicht als Feiglinge gelten. Sie machten sich auf den Weg.
Sie bogen in eine kleine Straße ab, die mit jeder Minute schmaler wurde. Die Häuser zu beiden Seiten wurden immer weniger, die Laternen immer dunkler.
Irgendwann ging es nicht mehr weiter. Sie waren angekommen und standen nun vor dem Haus am Ende der Straße. Es lag hinter einem verrosteten, hohen Zaun, der von unzähligen Ranken überwuchert wurde.
Der Garten war völlig verwachsen und verwahrlost. Die wenigen Bäume, die dort standen, trugen ganzjährig keine Blätter.
Die Fensterläden waren schief und würden wohl bald aus den Angeln fallen. Einige Fenster hatten große Sprünge. Überall blätterte die Farbe von den Hauswänden.
Irgendwo pfiff der Wind durch ein paar Löcher und machte beängstigende Geräusche.
Obwohl alles darauf schließen ließ, dass seit einer Ewigkeit niemand mehr hier lebte, hatte sich jemand die Mühe gemacht, Halloweendekorationen aufzustellen.
In den Bäumen hingen ein paar Gespenstergirlanden. Auf der vorderen Terrasse standen mehrere Kürbisse, hinter deren geschnitzten Gesichtern Kerzen leuchteten.
Auf jeder Fensterbank standen unzählige Totenschädel, die schaurig grinsten, während über den Hecken riesige, künstliche Spinnennetze lagen.
»Und ihr meint, dass das alles nur Show ist?«, bekam Hannah Angst.
Mia nahm sie an der Hand und zog sie langsam hinter sich her.
»Na klar. Die Frau, die hier wohnt, liebt Halloween über alles. Ich habe gehört, dass sie sich jedes Jahr so viel Mühe gibt, sich aber noch nie ein Kind hierher getraut hat. Könnt ihr euch vorstellen, wie viele Süßigkeiten sie deswegen hinter der Tür stehen hat? So viel Beute werden wir nie wieder in unserem Leben machen.«
Also gingen sie zitternd mit kleinen Schritten auf das Grundstück, bis sie vor der Tür standen.
Eine ganze Weile standen sie einfach nur da und taten nichts. Gar nichts. Sie trauten sich nicht.
»Nun mach schon.«, zischte nach ein paar Minuten Lena zu Mia. »Das war schließlich alles deine Idee.«
Mia schluckte. Dann streckte sie langsam ihre Hand aus. Doch bevor sie das erste Mal klopfen konnte, öffnete sich mit einem knarzenden Geräusch die Tür und das Gesicht einer altern Hexe flog ihnen regelrecht entgegen.
»Süßes oder Saures!«, rief sie laut und lachte schallend. Doch dann verstummte sie schnell wieder.
»Oh, tut mir leid. Das ist doch eigentlich euer Text, oder? Wisst ihr, ich bin etwas aufgeregt. Es war an Halloween noch nie ein Kind hier, obwohl ich mir das immer gewünscht habe. Na gut. Es war auch sonst noch nie jemand bei mir. Könnt ihr euch vielleicht vorstellen, woran das liegen könnte?«
Sie sah die vier zitternden Mädchen durchdringend an, bekam aber keine Antwort.
»Okay, okay. Fangen wir nochmal an? Ich gehe zurück ins Haus, ihr klopft und dann machen wir alles so, wie sich das an Halloween gehört. Wie findet ihr das?«
Und schon verschwand sie wieder und schlug die Tür krachend hinter sich zu.
»Wa … wa … was war denn das?«, stotterte Hannah. »Habt ich mir das gerade eingebildet oder habt ihr das auch erlebt?«
»Lasst uns bloß verschwinden. Ich hab voll Angst und will nur noch nach Hause.«, drängelte Sofie.
Aber da legte Mia schon ihre Hand auf die Tür, nahm den großen eisernen Ring vor sich zwischen die Finger und klopfte drei Mal an.
Die anderen verstummten und blieben wie angewurzelt stehen. Jetzt war es zu spät. Sie würden hier nicht mehr rechtzeitig weg kommen.
Sie hörten schwere Schritte aus dem Inneren des Hauses, die sich langsam näherten. Ein alter Schlüssel drehte sich mehrmals im Schloss. Hatte die Alte tatsächlich vorhin abgeschlossen?
Langsam senkte sich die Klinke ab. Die Tür schwang langsam knarzend auf und das schaurige Hexengesicht, dass die Mädchen schon gesehen hatten, tauchte vor ihnen auf.
»Wer ist da? Wer begehrt Einlass zu dieser späten Stunde?«
Die Alte grinste und zwinkerte den Kindern zu.
»Hab ich das so richtig gemacht?«, flüsterte sie.
»Oh, ein paar Zombieprinzessinnen. Oh weh mir. Hat nun mein letztes Stündlein geschlagen?«
Sie griff sich theatralisch an ihre Brust.
»Sü … Sü … Sü …«, stotterte Mia und bekam den Ellenbogen von Hannah in die Seite gestoßen.
»Süßes oder Saures!«, rief sie lauter, als sie es eigentlich wollte.
Die Alte atmete tief durch.
»Zu meinem großen Glück habe ich eine Schale Süßes im Haus. Bitte verschont mein Leben, dann dürft ihr euch darüber hermachen.«
Sie verschwand kurz hinter der Tür und kam mit einer großen Schüssel zurück. Darin lagen viele Bonbons und Schokoladen, die sie nun kichernd auf die Taschen der vier Kinder aufteilte.
»Ihr habt bekommen, wonach es euch begehrt. Und nun geht hinaus in die Nacht.«
Die Alte zwinkerte erneut und schloss die Tür. Der Spuk war vorbei.
Die Mädchen atmeten tief durch und waren erleichtert. Sie hatten es überstanden.
»So schlimm war es doch gar nicht, oder?«, fragte Lena.
»Spinnst du?«, blaffte Hannah zurück. »Ich hab mir vor Angst fast in die Hose gemacht.«
Aber die nun vollen Taschen in ihren Händen entschädigten die vier Mädchen für jeden Schrecken, den sie heute Abend erlebt hatten. Mit zittrigen Knien gingen sie zurück zur Straße. Ein letztes Mal drehten sie sich um und sahen zurück zum Haus. Genau in diesem Moment begannen die vielen Totenschädel laut zu lachen und in ihren Augenhöhlen leuchtete es tiefrot. Auch das schaurige Lachen der Alten ertönte über dem ganzen Grundstück und ein paar Schatten flogen zwischen den Büschen hindurch.
»Schnell weg hier!«, rief Mia.
Das ließen sich die Mädchen kein zweites Mal sagen. Sie rannten, so schnell sie konnten, die dunkle Straße entlang und kamen nur wenige Minuten später zu Hause an.

(c) 2018, Marco Wittler

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