894. Der durstige Vampir

Der durstige Vampir

Es war mitten in der Nacht, als er erwachte. In seiner Kehle herrschte eine trockene Dürre, wie er sie nur selten in seinem langen Dasein erlebt hatte. Es war wieder an der Zeit, einen genüsslichen Schluck oder mehr zu trinken.
Vom Durst getrieben, öffnete der Fürst der Vampire seinen Sarg und stand auf. Mit einem Blick aus dem Fenster stellte er fest, dass draußen der Vollmond die Herrschaft über den Himmel inne hatte.
»Der absolut perfekte Moment.«, schwärmte der Blutsauger, verwandelte sich in eine Fledermaus und flog in die Dunkelheit hinaus.
Er suchte nach seinem nächsten Opfer. Er wollte nicht nur den unbändigen Durst stillen – nein – es lag ihm auch an der Schönheit, der Ästhetik des Augenblicks. Der Hals, in den er sich verbeißen wollte, sollte vom einer zarten, weichen Haut bedeckt sein und sich unter dem hübschen Kopf einer jungen Frau befinden, die so manchen Mann die Augen verdrehen konnte.
Der Fürst flog über die nahe Stadt hinweg, segelte mit seinen Flügeln durch die Straßen, fand aber weder Mann noch Frau. Der Ort lag wie ausgestorben unter ihm.
»Das kann doch gar nicht sein. Was ist hier nur los?«
Er setzte zu einer zweiten Runde an. Doch auch diese Suche blieb erfolglos. Kein einziger Mensch wollte sich auf den Straßen zeigen. Es blieb dem Vampir nichts anderes übrig, als sich in eines der Häuser zu schleichen. Doch …
»Hä? Was?«
Die Türen waren verschlossen. Nicht eine einzige ließ sich von außen öffnen. Offenbar hatten die Menschen mittlerweile verstanden, warum immer wieder jemand verschwand oder tot mit Bisswunden im Hals aufgefunden wurde.
Verärgert machte sich der Fürst auf den Weg zurück in seine Burg. Er musste dringend die Bibliothek aufsuchen und auf den Landkarten einen neuen Ort finden, in dem er sein blutiges Unwesen treiben konnte.
Während des Flugs entdeckte der Vampir dann doch noch eine einsame, verlassene Person, die ganz verloren auf einem abgeernteten Getreidefeld stand.
»Jetzt ist mir alles egal. Ich verzichte auf samtene Haut, wenn ich nur diesen schrecklichen Durst nicht mehr verspüren muss.«
Noch während der Landung verwandelte sich der Fürst zurück. Einen Moment später stürzte er sich von hinten auf sein Opfer, biss tief in dessen Hals und erschrak.
Statt leckerer Blutstropfen hatte er plötzlich altes, verwittertes Stroh zwischen den Zähnen hängen.
»Bah! Was ist denn das für ein gemeiner und fieser Trick?«
Er ließ von der seltsamen Person ab, umrundete sie und musste feststellen, dass er eine Vogelscheuche überfallen hatte.
»Verdammte Menschen! Die haben auch keinen Anstand mehr. Wie können sie es wagen, den Fürsten der Vampire, so hinter das Licht zu führen?«
Wütend flog er zurück nach Hause und verkroch sich durstig in seinen Sarg.

(c) 2020, Marco Wittler

Image by OpenClipart-Vectors from Pixabay

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