926. Das Amulett

Das Amulett

Mia stand auf der Treppe, die zum Dachboden hinauf führte. Schon oft hatte sie an dieser Stelle gestanden und sich gefragt, was sich dort oben befinden würde. Allerdings hatte die Angst sie immer davon abgehalten, die Stufen hinauf zu steigen und die Tür in dieses geheimnisvolle Reich zu öffnen.
Es konnten sich schlimme Wesen dort oben aufhalten: Vampire, die auf die Nacht warteten, Monster, die kleine Kinder fraßen oder einfach nur kleine Spinnen, die es gar nicht mochten, wenn man durch ihre Netze lief und diese unabsichtlich zerriss.
Doch heute sollte der Tag gekommen sein, an dem Mia ihre Angst überwand und die letzten Schritte tat, um ihre Neugier zu befriedigen.
Zitternd setzte sich einen Fuß vor den anderen, nahm Stufe um Stufe und drückte die Klinke der Tür herunter. Die Tür schwang fast von allein auf und gab den Blick auf einen großen Raum frei, der sich direkt unter dem Dach befand. Die Decke war nicht gerade, wie man das von den unteren Etagen gewohnt war, sie waren schräg. Man konnte also nur in der Mitte aufrecht gehen und stehen.
Überall standen alte Möbel, Kisten und Kartons, in denen sich wohl aussortierte Krempel befand. Gefährliche Wesen gab es hier zum Glück nicht. Selbst die Spinnweben hielten sich in Grenzen.
Mia war aufgeregt. Sie hatte es im Gefühl, heute auf einen besonderen Schatz zu stoßen. Sie setzte sich auf den staubigen Boden, öffnete den ersten Pappkarton und entdeckte dabei ihre Winterklamotten, die Mama wohl schon bald in ihren Kleiderschrank packen würde.
»Ach, Mensch.«, war Mia enttäuscht. »Ich hatte eigentlich gehofft, etwas Außergewöhnliches zu finden.«
Nach und nach arbeitete sie sich durch die Kisten. Die meisten waren mit Kleidung vollgestopft. Ein paar von ihnen enthielten alte Bücher, die schon ziemlich muffig rochen und immer wieder fand sie altes Werkzeug, dass Papa in seiner Werkstatt im Keller nicht mehr gebrauchen konnte.
In der hinterletzten Ecke des Dachbodens stieß Mia auf ein kleines Holzkästchen, das sie beinahe übersehen hätte.
Sie nahm es auf dem Schoß, öffnete langsam den Deckel und sah tatsächlich einen Schatz darin. Es war ein silbernes Amulett, das mit vielen glitzernden Steinen besetzt war.
»Wow!«
Mia war begeistert. Mit so etwas Tollem hatte sie gar nicht gerechnet.
Vorsichtig nahm sie das Amulett aus dem Kästchen, sah es sich von allen Seiten genau an. Sie wollte es schon wieder an seinen Platz zurück legen, als sie einen kleinen Zettel entdeckte.
Sie entfaltete das Blatt und las die Zeilen, die darauf geschrieben standen.
»Dieses Amulett hat einen ganz besonderen Zauber in sich. Es wird dir jeden Wunsch erfüllen. Du musst ihn nur laut aussprechen.«
Mias Augen wurden groß.
»Das ist ja irre. Das ist ja genau so gut, wie eine Fee oder ein Flaschengeist.«
Sie überlegte, was sie sich alles wünschen konnte. So schnell fiel ihr aber nichts Passendes ein. Also sprach Mia das Erste aus, was ihr in den Sinn kam.
»Ich wünsche mir leckere Schokoschaumküsse.«
Es schien, als würden kleine Funkelsterne von der schrägen Decke herab fallen, die nach nur wenigen Sekunden wieder verblassten, als hätte es sie nicht gegeben. Dann flog aus einer Ecke des Dachbodens ein Schaumkuss auf Mia zu und erwischte sie mitten im Gesicht.
»Verdammt!«, fluchte Mia und wischte sich den süßen Schmier von der Wange.
»Ich sollte meine Wünsche präziser aussprechen.«
Sie leckte sich die Finger sauber und musste grinsen.
»Schmeckt aber trotzdem gut.«

(c) 2020, Marco Wittler

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

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