354. Hunger

Hunger

Die Tage waren merklich kürzer geworden und die Temperaturen stark gefallen. Die Bäume kahl geworden und die Sonne hatte sich schon seit ein paar Wochen nicht mehr blicken lassen. Der Winter hielt langsam Einzug in das kleine Königreich am Rande des großen Gebirges.  Die Menschen holten ihre dicken Mäntel aus den Schränken und heizten den Öfen ordentlich ein.
»Wie geht es dieser Tage dem Volke?«, fragte der König neugierig.
»Hat es sich gut auf die kalte Jahreszeit vorbereitet?«
Die Berater nickten eifrig mit den Köpfen. Es war ihre Aufgabe, sich um das Wohl der Menschen im Königreich zu kümmern.
»Oh ja, Eure Majestät. Dem Volke geht es gut. Die Speisekammern sind gefüllt, Holzscheite aufgehäuft und die Bäche satt und rund. Es ging unseren Bewohnern niemals besser.«
Der König lächelte, denn er war mit sich selbst sehr zufrieden.
»Dann haben also unsere Maßnahmen etwas gebracht. Es war die richtige Entscheidung, unsere Kornkammern zu öffnen und Lebensmittel an die Ärmsten der Armen zu verteilen.«
Abermals nickten die Berater eifrig und strichen dem König Honig ums Maul.
»Wie weise ihr doch gehandelt habt. Ihr seid der beste König, den sich unser Volk wünschen konnte.«
Während sie sich aus dem Thronsaal zurück zogen, warfen sie einen verstohlenen Blick aus dem Fenster. Ein Schauer lief ihnen den Rücken herunter. Was sie dort draußen sahen, gefiel ihnen ganz und gar nicht.
»Damit kommen wir niemals durch.«, flüsterte einer von ihnen.
»Halt bloß den Mund. Solange der König nichts erfährt, können wir so weiter machen.«, antwortete ein anderer.

Der Winter hatte begonnen. Die letzten Blätter waren von den Bäumen gefallen und es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Schneeflocken den Boden bedecken würden.
»Papa, mir ist so kalt.«, bibberte die kleine Elisabeth, die sich verzweifelt einen weiteren Pullover überzog und sich noch enger an den Ofen kuschelte.
»Ach, mein armes Kind.«, seufzte Papa.
»Der Ofen ist doch schon seit zwei Wochen nicht mehr beheizt. Wir haben kein Holz und kein Geld, um welches zu kaufen.«
Elisabeth verzog das Gesicht.
»Aber dafür haben wir noch uns.«
Papa stimmte ihr zu. Sie hatten immer noch sich. Doch davon wurde ihnen leider nicht wärmer und etwas Essbares hatten sie dadurch auch noch nicht.
»Wenn dieser fiese und gemeine König bloß mehr für sein Volk übrig hätte. Aber der interessiert sich doch gar nicht für uns.«, schimpfte er.
»Seine Kornkammern sind gut gefüllt. Ich habe es selbst gesehen, dass die Bauern ihr ganzes Getreide abgeben mussten. Und nun müssen wir alle hungern und leiden. Wenn ich den in die Finger kriege, dann …«
Er sprach den Satz nicht weiter, malte sich aber schlimme Dinge in seinem Kopf aus. Es gibt nur leider niemanden, der sich traut, ihm mal so richtig die Meinung zu sagen.«
Traurig zog er sich in sein Schlafzimmer zurück.
»Vielleicht finde ich im Schlaf meine Ruhe. Und du solltest auch langsam ins Bett gehen, Es ist schon spät.«
Elisabeth nickte. Bevor sie unter ihrer Decke verschwand, warf sie noch einen letzten Blick auf den Kalender.
›Heiligabend‹ stand dort. Die Nacht vor Weihnachten.
»Wenn nicht heute Zeit ist für ein Wunder, wann dann?«, murmelte sie.
Und plötzlich kam ihr eine Idee.

»Es ist Weihnachten.«, rief der König erfreut durch seinen Thronsaal.
Seine Berater tippten mit ihren Fingern auf den Kalender.
»Erst Morgen, Eure Majestät. Ihr müsst noch eine Nacht schlafen, bevor ihr Eure Geschenke öffnen dürft.«
Enttäuscht ließ der König seine Schultern sinken.
»Zu dumm. Aber dann bekommt ihr auch noch nichts von mir.«, entschied er und packte ein paar kleine Pakete zur Seite.
»Mein Volk beschenkt sich bestimmt jetzt schon. Da bin ich mir sicher. Die einfachen Menschen warten bestimmt nicht bis zum Morgen.«
Die Berater nickten nur, während ihr schlechtes Gewissen von innen an ihren Kopf klopfte.
»Gewiss, Eure Majestät. Das einfache Volk kennt keine Regeln und keinen guten Umgangston. Es macht sicherlich was es will. Bestimmt haben manche von ihnen auch schon gestern und vorgestern gefeiert.«
Der König strich sich über seinen Bart und setzte eine nachdenkliche Miene auf.
»So wird es sein. Dennoch mache ich mir Gedanken darüber.«

Es war spät in der Nacht, als der König ein leises Klopfen vernahm. Er öffnete die Augen und schlug die Decke zur Seite.
»Wer ist da und stört meinen Schlaf. Er soll sprechen.«
Eine Antwort gab es nicht, stattdessen klopfte es wieder.
»Welcher Unhold wagt es, meinen Schlaf zu stören?«
Doch wieder meldete sich niemand. Dann erkannte der König, dass das Klopfen von der anderen Seite des Fensters kam. Er stand auf und ging langsam näher. Vorsichtig spähte er durch das Fenster, auf dem sich bereits einige Eisblumen gebildet hatten. Zu seiner Überraschung entdeckte er das Gesicht eines kleinen Mädchens. Sofort öffnete er das Fenster.
»Nanu. Wer bist denn du und was machst du zu so später Stunde vor meinen Gemächern?«
Das Mädchen setzte eine ernste Miene auf, wie es der König selbst schon ein paar Stunden zuvor getan hatte.
»Ich bin die Elisabeth und ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit dir reden.«
Der König grinste. So etwas hatte er nun wirklich nicht erwartet.
»Du weißt wohl, dass du mit deinem König redest und ich dich für deine unverschämten Worte einsperren lassen könnte.«
Elisabeth nickte und begann dann sofort davon zu berichten, wie schlecht es dem Volk in diesem Winter erging.
Der König wurde mit jedem Satz, den er hörte, bleicher im Gesicht.
»Du meine Güte. Davon habe ich nichts gewusst. Wie konnte so etwas nur geschehen. Ich kann eigentlich nur hoffen, dass du mich belügst.«
Aber Elisabeth schüttelte nur mit dem Kopf. Sie nahm den König an die Hand und wollte ihn durch das Fenster ziehen.
»Los, komm mit, dann zeige ich es dir.«

Ein paar Minuten später waren sie gemeinsam unterwegs in den Straßen des nächsten Dorfes. Um nicht sofort aufzufallen, hatte sich der König verkleidet. Nun sah er aus, wie ein ganz normaler Mensch aus dem Volke. Er besah sich alles ganz genau und erschrak immer wieder aufs Neue.
Die Schornsteine der Häuser rauchten nicht, Nirgendwo war Holz aufgestapelt. Und wenn er Blicke in Küchen und Speisekammern werfen konnte, entdeckte er nur gähnende Leere.
»Aber wie konnte das nur geschehen?«, wunderte er sich.
»Ich habe meine Berater bereits im Herbst aufgefordert, sich um das gesamte Volk zu kümmern. Jeder Bedürftige sollte genug Getreide bekommen, um satt und zufrieden durch den Winter zu kommen.«
Elisabeth senkte ihren Blick.
»Davon ist nie etwas bei uns angekommen. Stattdessen frieren und hungern wir.«
Der König war erbost. Sein Kopf lief rot an.
»Ich weiß, wer daran Schuld ist und ich werde mich darum kümmern. Aber dafür brauche ich deine Hilfe.«
Er zog Elisabeth nahe an sich heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr, bevor er sich wieder auf den Weg ins Schloss machte.

Am nächsten Morgen wachten die Berater des Königs früher als gewöhnlich auf. Ein ungewohnter Lärm hatte sie geweckt.
»Was ist denn da draußen bloß los?«, fragten sie sich, während sie ihre prachtvollen Gewänder anzogen.
So schnell wir möglich machten sie sich auf den Weg in den Thronsaal, um nach dem Rechten zu schauen. Dort staunten sie nicht schlecht. Der Raum war voller Menschen und Möbel. Auf Tischen standen die leckersten Gerichte, während sich auf den Stühlen das einfache Volk tummelte. Es schien, als wären alle Menschen der umliegenden Dörfer hier herein gekommen.
»Zum Teufel, was ist denn hier los?«, riefen die Berater erbost.
»Wachen! Befreit uns von diesem Pöbel. Werft sie alle raus und sorgt für Ruhe.«
Doch dazu sollte es nicht kommen, denn in diesem Moment trat der König von hinten an seine Berater heran.
»Das ist eine gute Idee.«
Es wurde still im Saal. Die Menschen hörten auf zu essen und zu reden. Sie beobachteten den König und warteten darauf, was nun passieren würde.
»Wachen, verhaftet meine Berater. Sie haben meinem Volk viel Unrecht angetan. Sie haben es verdient, eingesperrt zu werden.«
Großer Jubel ging durch das Volk. Doch dann spürte der König, wie jemand an seinen Gewändern zupfte. Es war die kleine Elisabeth.
»Bitte nicht. Du bist so ein lieber König und hast uns alle zum Essen eingeladen. Es ist doch Weihnachten und da sollte niemand im Gefängnis landen. Sei gnädig mit ihnen.«
Der König dachte kurz nach, bevor er eine Entscheidung traf.
»Liebes Volk, ihr habt es gehört. Meine neue Freundin, die Elisabeth, hat mein Herz berührt und mich gebeten, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Ihr werde ihrer Bitte entsprechen. Heute wird niemand mehr eingesperrt. Wir wollen lieber gemeinsam Weihnachten feiern.«
Das Volk jubelte ein weiteres Mal, während die Berater aufatmeten.
»Allerdings habe ich von nun an eine neue Aufgabe für meine Berater.«, sprach der König weiter.
»Vom heutigen Tage an, sollen sie dem Volke dienen.«
Er drehte sich zu seinen Beratern um.
»Worauf wartet ihr noch? Schnappt euch die Weinkrüge und schenkt nach. Das Volk hat Durst.«
Nun war auch Elisabeth zufrieden. Schöner konnte Weihnachten nicht mehr werden.

(c) 2010, Marco Wittler

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