225. Verschlafen

Verschlafen

Es war Abend geworden. Die Sonne bewegte sich immer weiter Richtung Horizont und färbte sich rot. Überall in der ganzen Stadt bereiteten sich nun unzählige Kinder für das Bett vor. Hier und da lasen ein paar Väter und Mütter Geschichten vor, in anderen Häusern wurde diese Aufgabe von einem Hörspiel übernommen.
»Schlaf schön, mein Schatz. Gleich kommt das Sandmännchen.«, war aus allen Kinderzimmern zu hören.
Ein paar wenige Stimmen versuchten sich noch gegen das Unvermeidliche zu wehren. Doch dann sahen sie ein, dass es wirklich schon sehr spät geworden waren und gähnten so laut, dass es fast überall zu hören war.
Die Zeit verging, es wurde langsam dunkler und die Nacht brach herein. Der Mond kletterte am Firmament empor und zog eine große Schar glitzernde Sterne hinter sich her und verteilte sie wie kleine weiße Farbtupfer auf dem Himmelszelt.
Mittlerweile war es so spät geworden, dass nun auch die Eltern ins Bett gingen.
»Da stimmt doch etwas nicht.«, wunderte sich eine kleine Fledermaus, die gerade durch die Straßen flog und hier und da in die Fenster sah.
»Warum schlafen denn die Kinder nicht?«
Sie hatte sich nicht verguckt und auch nicht geträumt. Es war tatsächlich so, wie sie es gesehen hatte. Nicht ein einziges Kind in der ganzen Stadt schlief. Sie waren alle wach und munter. Eines von ihnen war Paul.
Paul saß aufrecht in seinem Bett und konnte nicht schlafen. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise schlief er immer nach wenigen Minuten ein.
»Was ist denn heute los? Haben wir etwa Vollmond?«
Er stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Doch am Himmel war nur ein großer, heller Halbkreis zu sehen.
»Also daran kann es nicht liegen. Vielleicht habe ich ja noch etwas Hunger.«
Mit diesen Worten verließ er sein Zimmer, schlich sich in die Küche und aß ein Butterbrot.
Während er genüsslich vor sich hin kaute, bemerkte er etwas. In Haus nebenan brannte noch Licht. Dort stand sein Freund Tim vor dem Kühlschrank. Konnte er etwa auch nicht schlafen?
Verdutzt ging Paul wieder die Treppe hoch und warf einen neuen Blick aus dem Fenster. In jedem Haus seiner Straße brannte Licht. Hinter jedem Fenster war ein waches Kind zu sehen.
»Schläft denn heute niemand? Da stimmt doch etwas nicht.«
Er zog sich an und schlich sich aus dem Haus. Auf dem Bürgersteig hatten sich bereits andere Kinder eingefunden. Sie redeten alle miteinander. Offenbar konnte kein einziges von ihnen einschlafen.
»Hat denn jemand von euch den Sandmann heute Abend gesehen? Vielleicht hat er uns ja vergessen und wir sind deshalb noch wach.«
Diese Erklärung schien alle zufrieden zu stellen.
»Aber dann müssen wir etwas unternehmen.«, rief Paul in die Menge hinein.
»Wenn wir jetzt nicht bald einschlafen, werden wir Morgen den ganzen Tag müde sein. Wir müssen den Sandmann unbedingt finden.«
Also machten sie sich in mehreren großen Gruppen auf die Suche und liefen dabei in alle Himmelsrichtungen.
Nach und nach liefen sie durch alle Straßen der Stadt. Aber der Sandmann war einfach nicht zu entdecken. Es schien wirklich so, als hätte er die Kinder vergessen.
Nach einer ganzen Weile stand Paul an einer Kreuzung, die er nicht kannte.
»Komisch. An dieser Stelle ist doch normalerweise keine Straße.«, wunderte er sich.
So viel er wusste, stand an dieser Stelle ein großes Haus. Dieses war aber nun verschwunden.
Er sah sich um und fand ein Schild.
»Sandstraße.«
In diesem Moment hatte er eine Idee.
»Los, kommt alle hinter mir her. Ich glaube, hier sind wir richtig.«
Schnell liefen die vielen kleinen Füße den Bürgersteig entlang, bis sie vor dem einzigen Haus an dieser Straße standen.
»Ob er tatsächlich hier wohnt?«, fragte Tim.
»Das finden wir ganz schnell heraus.«, antwortete Paul, bevor er zur Eingangstür lief.
Unter dem Klingelknopf hing ein Schild. Darauf stand ein Name: Sandmann.
»Ich habe ihn gefunden.«
Sofort sammelten sich die Kinder vor der Tür. Jeder drückte einmal kräftig auf die Klingel. Dann warteten sie gespannt, was nun geschehen würde.
Zunächst blieb es ruhig. Doch dann hörten sie, wie jemand eine Treppe hinunter stolperte, etwas um stieß, einmal laut fluchte und dann die Tür öffnete.
Vor den Kindern stand ein kleiner, bärtiger Mann, der nicht viel größer war, als sie selbst.
»Was wollt ihr denn hier? Solltet ihr nicht schon längst in euren Betten liegen und schlafen?«
Paul ging einen Schritt vor.
»Wir können nicht schlafen. Der Sandmann ist nicht zu uns gekommen.«
»So ein Blödsinn. Der Sandmann kommt doch jede Nacht.«
In diesem Moment wurde der Mann bleich. Er sah auf seine Armbanduhr und blickte dann die Kinder an.
»Du meine Güte. Ich bin doch der Sandmann. Ich habe verschlafen.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, rannte er seine Treppe hoch. Die Kinder konnten hören, wie er sich laut fluchend umzog, seinen Sandbeutel suchte und dann wieder hinunter kam.
»Vielen Dank, dass ihr mich geweckt habt. Ihr geht jetzt schnell wieder nach Hause, legt euch in eure Betten und dann komme ich, um euch meinen Sand in die Augen zu streuen.«
Damit waren Paul und seine Freunde einverstanden.
Kurz darauf schliefen die Kinder der ganzen Stadt.
Die letzte Station des Sandmanns war Pauls Zimmer. Nachdem er dem Jungen Sand in die Augen gestreut hatte, entdeckte er auf der Fensterbank ein kleines Geschenk.
Der Sandmann öffnete es und sah hinein. Im Innern fand er einen Wecker und einen Brief. Darauf stand etwas geschrieben.

Lieber Sandmann, ich möchte dir einen meiner beiden Wecker schenken. Wenn du ihn regelmäßig aufziehst, wird er dich jeden Tag pünktlich wecken und du wirst nie wieder verschlafen.

Dein Paul

(c) 2009, Marco Wittler

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