Kleine Blümchen im Asphalt
Herr Schröder kam mit einem Stapel Briefumschläge aus dem Haus. Er war auf dem Weg zum Postkasten. Doch schon auf der Treppe fiel ihm etwas ins Auge, dass ihn sofort mächtig wütend machte. »Dieses verdammte Unkraut.«, schimpfte er laut, während sein Gesicht rot anlief. »Das Zeug ist zu nichts nütze.«
Er ging zurück ins Haus, legte die Briefe auf eine Kommode und kam mit einem Messer wieder heraus. »Na warte. Jetzt geht es dir ans Leder.«
Mit einem schnellen, geübten Stich, holte er die kleine Pflanze aus dem Ritz zwischen dem Gehweg und seinem Haus. Doch damit war es noch nicht genug. Er ging weiter am Haus entlang und entfernte alles, was irgendwie nach Unkraut aussah. Dann kam er um die Ecke und entdeckte etwas, das seinen Kopf fast zum Platzen brachte. Nur einen Meter vor seinen Füßen saß ein Mädchen. Das musste diese Annalena von den Nachbarn sein. Wer wusste das schon? Für Herrn Schröder sahen Kinder eh alle gleich aus und waren nervig.
»Was zum Donnerwetter machst du da?«, herrschte er das Mädchen an.
»Siehst du das denn nicht?«, antwortete sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Der scharfe Ton in der Stimme des alten Mannes und sein wütendes Gesicht, schienen Annalena weder zu stören, noch zu ängstigen. »Ich gebe dem kleinen Blümchen Wasser mit meiner Gießkanne, damit es hier im heißen Asphalt unter der Sonne nicht vertrocknet und stirbt.«
»Ja, aber das kannst du doch nicht machen. Das ist Unkraut.« Herrn Schröder fehlten die Worte. Wie konnte man sich nur um dieses lästige Gestrüpp kümmern. Das war einfach nicht richtig.
Annalena beugte sich herab und roch an der Blüte. »Sie duftet so schön. Willst du nicht auch mal?«
Herr Schröder stöhnte und musste sich die Augen reiben. Das konnte nur ein schlechter Traum sein. »Also gut.« Er seufzte laut, während er sich auf den Boden setzte. »Aber danach mache ich das Ding weg. Darüber wird nicht diskutiert.« Er roch ebenfalls an der Blüte. »Hm, ist eigentlich gar nicht schlecht für ein Unkraut.« Er griff zum Messer.
Annalena legte ihre Hand auf seine. »Lass das, Herr Schröder. Die kleine Pflanze hat sich auch ihr Leben verdient. Findest du es nicht auch faszinierend, dass sie genau dort wächst, wo kaum Erde ist? Sie hat sich sogar durch den harten Asphalt gekämpft. Und ein Löwenzahn hat eh so schöne gelbe Blüten. Damit sieht es hier nicht mehr so grau und langweilig aus.«
»Heute ist es vielleicht noch ein Löwenzahn. Aber in ein paar Tagen steht hier eine Pusteblume, die ihre Samen in alle Richtungen verteilt. Das Zeug werde ich nie wieder aus meinem Rasen bekommen, wenn ich nicht handle.«
Annalena sah ihn streng an. »Pusteblumen sind toll. Die sehen aus wie kleine Fallschirmspringer.«
Herr Schröder seufzte ein weiteres Mal. »Gegen die Argumente dieses Mädchens kam er irgendwie nicht an. Was sollte er nur machen? Also gut. Den einen lassen wir stehen. Aber du kümmerst dich darum. Eine vertrocknete Pflanze mag auch niemand.«
Freudestrahlend nickte Annalena. »Versprochen. Ich komme jeden Tag mit meiner Gießkanne vorbei.«
Ein Jahr später war genau das eingetreten, was Herrr Schröder immer befürchtet hatte. Der Löwenzahn vom Gehweg war zur Pusteblume geworden und hatte seine schwebenden Samen über den sonst so gepflegten Rasen verteilt. Nun wuchsen die gelben Blüten in nicht mehr zählbarer Menge im Garten.
»Bist du jetzt sauer auf mich?«, fragte Annalena, die vom Gartenzaun aus die gelben Farbtupfer betrachtete.
»Sauer?«, fragte Herr Schröder verwirrt zurück. »Nein. Im Gegenteil. Ich bin froh, dass ich jetzt so einen farbenfrohen Garten habe. Hier summen jeden Tag die Bienen und Hummeln hin und her. Außerdem freuen sich schon die Kinder der ganzen Nachbarschaft, dass sie in ein paar Tagen hier die Pusteblumen pflücken können. So viel Leben hat es in meinem Garten nicht mehr gegeben, seit meine Frau gestorben ist.«
Dass Herr Schröder schon seit einigen Jahren sehr einsam war, hatte Annalena nicht gewusst. Aber die Zeit war nun endlich vorbei. Er bekam jeden Tag Besuch in seinem Garten.
(c) 2022, Marco Witttler
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