1610. Streit am Weiher

Streit am Weiher

Der Wecker klingelte. Die dicke Decke wurde kraftvoll aus dem Bett geworfen. Elisa sprang aus den Federn und landete mit allen vier Hufen gleichzeitig auf dem Boden.
»Perfekt! Nichts ist schlimmer, als mit dem falschen Fuß zuerst aufzustehen.« Das Sprichwort hatte sie oft genug gehört und gelesen, wusste aber nicht, welcher nun der falsche und welcher die richtige Fuß war. Sie gab sich also jeden Morgen besonders viel Mühe, mit allen Vieren gleichzeitig den Teppich zu berühren.
»Auf in den Tag. Es gibt viel zu tun.«
Elisa ging ins Bad, griff zum Bürste, sah in den Spiegel und begann ihre lange Mähne gründlich zu bürsten.
Ach ja, ich glaube, ich habe vergessen dir etwas ganz wichtiges zu erklären. Vier Hufe und eine Mähne waren für Elisa ganz normal. Ein langer, bunter Schweif in allen Farben des Regenbogens und ein langes, gewundenes Horn auf ihrer Stirn gehörten ebenfalls untrennbar zu ihr. Kannst du dir vielleicht vorstellen, um welche Art Tier es sich bei ihr handelte?
Richtig geraten. Elisa war ein Einhorn und machte sich gerade bereit, zur Arbeit zu traben. »Jetzt nur noch Zähne putzen, die Trillerpfeife umhängen und ab dafür.«
Eine halbe Stunde später hatte Elisa das Ufer des kleinen Weihers erreicht, der sich in der Mitte dreier Waldstücke befand. Über eine breite Treppe erreichte sie ihren Arbeitsplatz und setzte sich in ihren gemütlichen Sessel. Von hier aus hatte sie den perfekten Überblick auf die Wasserrutsche.
Elisa steckte sich ihre Pfeife in den Mund und pfiff. Das Freibad war eröffnet.
Wenige Minuten später kamen die ersten Tiere ans Ufer, reservierten sich Liegeplätze auf der Wiese mit ihren Handtüchern und sprangen quietschvergnügt ins Wasser. An der Rutsche bildete sich schon bald eine lange Schlange, eine zweite am Kiosk, an dem ein dicker Biber leckere Pommes verkaufte.
Zur Mittagszeit wurde es laut. Am Einstieg der Wasserrutsche hatte sich eine große Traube Badegäste gebildet. Sie stritten, sie schrien sich gegenseitig an. Es wurde gedrängelt und geschubst.
Elisa griff pfiff so laut dass es überall zu hören war. Stille legte sich über den Weiher. Es war, als würde die Welt für einen Moment den Atem anhalten.
»Was ist hier los? Warum geht ihr euch gegenseitig an die Gurgel? Muss das sein?« Das Einhorn stellte sich mitten zwischen die Streithänge und versuchte ihnen allen nacheinander in die Augen zu blicken.«
»Die da haben angefangen.« Ein Fuchs zeigte auf eine Ottergruppe. »Die drängeln sich ständig vor.«
»Wir sind ja auch Otter. Wasser ist unser Element, unser natürlicher Lebensraum. Es ist nur logisch, dass man uns den Vortritt lässt. Wir sind halt die besten Schwimmer.«
»Ich habe aber schon das Seepferdchen gemacht.« Das Reh aus dem Südwald zeigte stolz auf seinen Badeanzug, auf dem das Abzeichen deutlich zu sehen war. »Ich muss auch nach vorn. Ich trainiere für meinen Wasserrutschen-Wettkampf mit dem Wolf.«
»Und wenn wir schon dabei sind …« Der Wolf schon sich aus der Menge heraus und trat an die Rutsche. »Ihr wisst schon. Chancengleichheit. Es kann nicht angehen, dass das Reh öfter trainieren darf als ich.«
Da waren die Maulwürfe aus dem finsteren Wald und die Dachse aus dem kleinen Forst natürlich anderer Meinung. Sie alle wollten Erste sein. Erneut brach Streit aus.
Elisa rollte mit den Augen, stemmte die Arme in die Seiten und blies ein weiteres Mal in die Pfeife.
»Ruhe jetzt, verdammt noch mal! Ihr benehmt euch wie kleine Kinder.« Elisa schüttelte den Kopf. »Nein. Eigentlich seid ihr viel schlimmer. Kinder haben nämlich kein Problem damit, miteinander zu spielen, egal woher sie kommen und zu welcher Art sie gehören.«
Das Einhorn bahnte sich einen Weg durch die Menge, lief im Kreis, ging an jeder Gruppe vorbei.
»Natürlich sind Otter gute Schwimmer. Dachse bauen dafür tolle Höhlen. Sie haben mit Hilfe der Maulwürfe das Kinderbecken dort unten gebaut. Und mal ganz ehrlich, das Reh macht eine tolle Figur auf der Wasserrutsche. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schnell rutscht wie der Wolf. Jeder von euch ist anders, jeder von euch ist besonders. Das ist eine tolle Sache. Aber so richtig Spaß macht das alles nur, wenn wir alle beieinander sind. Stellt euch doch nur mal vor, der Biber würde keine Freibadpommes mehr verkaufen, weil hier nur noch Otter wären.«
Elisa blickte in dutzende erschrockene Augen. »Seht ihr? Das wollt ihr alle nicht.« Sie ging zum eh, legte ihm einen Arm um die Schultern. »Rutsch doch mal gemeinsam mit Ottern. Sie lieben und leben das Wasser. Ich bin mir sicher, dass sie dir noch ganz viele Tipps geben können.« Sie ging weiter. »Was meint ihr wohl, was für einen riesigen Spaß wir haben könnten, wenn uns Dachse und Maulwürfe eine unterirdische Wasserrutsche bauen.«
Das Einhorn stellte sich zurück in die Mitte. »Gemeinsam sind wir stärker. Gemeinsam können wir mehr erreichen. Gemeinsam haben wir viel mehr Spaß. Wir sind nun einmal alle verschieden, weil wir alle anderen Völkern angehören, aus anderen Wälder stammen. Das macht die Einzelnen nicht schwächer, es macht uns stärker.«
Elisa hob ihren bunten Schweif, ließ ihn mehrfach durch die Luft kreisen. Über den Streithähnen entstand ein großer Regenbogen. »Und für den Anfang kümmere ich mich um eine zweite Wasserrutsche, damit die Wartezeit für euch alle nicht mehr so lang ist.«
Lauter Jubel erscholl über dem Weiher. Die Tiere der drei Wälder waren glücklich, dass das weise Einhorn Bademeisterin war und immer eine kluge Lösung für kleine und große Probleme fand. Gemeinsam bestiegen sie den Regenbogen und rutschten in einer bunt gemischten Schlange hinab, bis sie ins Wasser platschten.

(c) 2024, Marco Wittler

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