Das goldene Kleid
Marianna kam gerade aus dem nahen Wald, als ein Bote aus dem Könispalast einen Zettel an die Kirchenmauer nagelte. Nach ein paar Schlägen drehte er sich um und winkte die Menschen zu sich.
»Höret mich an. Ich habe euch eine Nachricht aus dem Schloss zu verkünden.«
Er holte einen zweiten Zettel aus seiner Tasche, entrollte ihn und begann zu lesen.
»Der Ball, den der König alljährlich in seinem Thronsaal veranstaltet, wird in diesem Jahr an einem ganz besonderen Ort stattfinden. Hier, mitten unter euch, vor den Augen des einfachen Volkes, wird der Adel zusammentreffen und euch mit seiner Anwesenheit beglücken.
Zu diesem Anlass lädt der junge Prinz alle jungen Damen ein, sich in ihre schönsten Kleider zu schlüpfen. Der Schönste unter ihnen gewährt er einen Tanz.«
Marianna verdrehte die Augen. »Puh. Das hat mir gerade noch gefehlt. Da drehen sie bestimmt alle durch und wollen ihm schöne Augen machen. Zum Glück besitze ich nicht ein einziges Kleid.« Stattdessen trug sie Hosen, die ihm Wald ordentlich schmutzig geworden waren.
Die nächsten Tage waren anstrengend. In der örtlichen Schneiderei wurde fleißig gearbeitet und Mariannas Freundinnen probierten immer wieder neue Kleider an. Sie alle hofften darauf, den Wettstreit zu gewinnen und damit vielleicht sogar das Herz des Prinzen.
Einmal mit ihm tanzen und dann selbst eine Prinzessin werden. Das war ein Traum, den viele träumten.
Der Abend des Balls kam schnell. Auf dem Marktplatz wurden Bühnen aufgebaut, die Häuser mit langen, bunten Stoffbahnen fstlich geschmückt. Erst kurz vor Beginn, kamen Der König, seine König, der Prinz und der ganze Hofstaat. Musik wurde gespielt, gegessen, getrunken und viel getanzt. Währenddessen warteten die Damen in ihren wunderschönen Kleidern am Rand des Platzes, dass der Prinz sie anschauen würde. Wer möchte wohl bei ihm das Rennen machen?
Es ging los. Nach und nach bat er sie zu sich. Sie lächelten, sie drehten sich mehrmals im Kreis um ihn und machten einen tiefen Knicks. Bei jeder lächelte der Prinz zurück und nickte.
Marianna hingegen stand in einer dunklen Gasse und sah sich das Spektakel mit Grausen an.
»Ich ertrage das nicht mehr länger. Jemand muss diesem Treiben Einhalt gebieten. Alles daran ist so falsch. Meine Freundinnen sind keine Ware, die man auf dem Markt verkauft. Sie müssen nicht begutachtet werden. Ich muss etwas unternehmen.«
Marianna stürmte auf den Platz, vorbei an den hübschen Frauen in ihren Kleidern und blieb vor dem Prinzen stehen. »Ihr solltet euch schämen, euer Majestät. Vor euch stehen Menschen, die etwas Besseres verdient haben, als euch zu belustigen.«
Zuerst war der Prinz etwas irritiert, doch dann lachte er. »Was soll das hier? Schafft diesen Burschen fort. Er beleidigt meine Augen.«
Zorn blitzte in Mariannas Augen auf. Sie nickte. »Ihr habt es nicht anders gewollt.« Sie nahm zwei Finger in den Mund und pfiff darauf. Aus dem Wald, in dem sie ihre ganze Freizeit verbrachte summte es. Unzählige kleine Käfer flogen herbei, umkreisten sie in einer dunklen Wolke, das man sie fast nicht mehr sehen konnte. Sie setzten sich auf ihrem Körper ab und begannen wie auf ein geheimes Kommando zu leuchten.
Es waren Glühwürmchen, um die sich Marianna täglich kümmerte, sie umhegte. Nun waren sie für sie ein goldenes Kleid, dass so hell erstrahlte, dass es den Prinzen blendete.
»Potzblitz. Was ist das?« Er konnte nicht anders. »Ihr habt natürlich das schönste Kleid von allen. Ihr erkläre euch zur Siegerin.«
Marianna lachte und winkte ab. »Um nichts in der Welt, würde ich mit euch tanzen. Ich habe andere Pläne.«
Sie winkte den wartenden Freundinnen und Frauen der Stadt zu. »Lasst uns unseren eigenen Ball veranstalten. Ihr dürft alle mit mir tanzen, denn ihr seid alle, die schönsten Frauen des Tages.«
Und so tanzten sie vergnügt bis zum nächsten Morgen. An den Hofstaat und den Prinzen dachte niemand mehr.
(c) 2025, Marco Wittler
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