1690. Jona gräbt ein Loch

Jona gräbt ein Loch

Ding!
Die morgendliche Ruhe im Büro, die bisher nur aus leisen Gesprächen und dem Klingeln von Löffeln in Kakaobechern bestand, wurde durch ein elektronisches Signal unterbrochen. Zeitgleich öffneten sich die Fahrstuhltüren und ein großer, dicker Maulwurf mit einer riesigen Sonnenbrille im Gesicht kam herein.
»Hey Matteo, wann schläfst du eigentlich?«
Eine junge Igeldame erhob sich von ihrem Sessel, der wegen ihres Stachelkleids zahlreiche Löcher aufwies. Sie warf dem Neuankömmling ein belegtes Brötchen zu.
»Ich habe keine Zeit für Schlaf. Als Maulwurf ist es mein Job, die Gärten meiner Nachbarn mit zahlreichen Gängen zu unterhöhlen und überall Ausgänge anzulegen. Nur auf diese Art und Weise ist es mir möglich, schnell und unerkannt von einem Ort zum nächsten zu kommen. Außerdem mag ich die Sonne nicht. Meine Augen sind viel zu empfindlich gegen dieses schrecklich helle Licht.« Er ließ sich in den Sessel hinter seinem eigenen Schreibtisch fallen und biss genüsslich in das Brötchen.
»Du hast bei uns auch einen Job.« Ida zwinkerte. »Du weißt schon, Verbrechen aufklären, Kriminelle verhaften und all so ein Zeug.«
Noch bevor Matteo zu einer Antwort ansetzen konnte, rappelte das Telefon. Er griff zu einer leeren Dose, zog die Schnur daran straff und meldete sich. Er nickte mehrmals, machte sich auf einem Block Notizen und seufzte. »Ich glaube, das wird mal wieder nichts mit meinem Frühstück. Wir haben einen Einsatz. In einem Garten hier in der Nähe wurden verdächtige Aktivitäten gemeldet. Wir müssen sofort los. Pack dein Zeug ein, Ida.«
Ida zog sich ihren langen Mantel über und griff nach ihrer Tasche. Die beiden Ermittler stürmten auf den Fahrstuhl zu. Glücklicherweise befand er sich noch in diesem Stockwerk und öffnete nach Betätigung seines Knopfes sofort die Türen. Innerhalb weniger Sekunden fuhr die Kabine in den Keller.
»Und jetzt wage es noch ein einziges Mal zu behaupten, dass es unnütz wäre, Tunnel zu graben.«
Ida konnte nichts dazu sagen, immerhin liefen sie gerade durch einen dieser Tunnel und mussten keine Umwege über stark befahrene Straßen nehmen. Schließlich kletterten sie an einem der Ausgänge nach oben und fanden sich in einem dichten Busch wieder.
»Da vorn ist der Verdächtige. Unser Informant hat Recht behalten. Wenn wir Glück haben, ertappen wir ihn auf frischer Tat und können ihn sofort festnehmen.«
Gespannt blickten sie auf einen kleinen, blonden Jungen, der gerade von seinem blauen Fahrrad stieg, den Helm abnahm und aus seinem Rucksack Werkzeug holte. Darunter waren eine Schüppe, eine Harke und ein Säckchen, dessen Inhalt man nicht erahnen konnte.
»Das ist Jona.«, erklärte der Maulwurf. »Er wird hier in unregelmäßigen Abständen gesehen. Er kommt vorbei, gräbt stundenlang im Boden, verschließt die Löcher wieder und verschwindet, als wäre er niemals hier gewesen. Das ist natürlich nicht ungesetzlich, aber trotzdem sehr verdächtig. Außerdem verschwinden im näheren Umkreis immer wieder Dinge auf unerklärliche Weise.«
Sie setzten sich unter ein großes, grünes Blatt und behielten den Jungen im Auge, der nun damit begann, ein Loch zu buddeln. Immer wieder sah er sich dabei unruhig um, als wolle er vermeiden, von jemandem entdeckt zu werden. Doch da hatte er nicht damit gerechnet, von zwei erfahrenen Ermittlern überwacht zu werden.
Das Loch wurde tiefer und tiefer. Da sollte wohl keine Kleinigkeit vergraben werden. Hier ging es um etwas Größeres.
»Ich habe bei dieser Sache ein ganz ungutes Gefühl.« Matteo trommelte vor Nervosität mit seinen Fingern auf seinen Knien. »Wenn wir doch nur schon wüssten, was genau er dort vergraben will.«
»Oder etwas ganz Anderes.« Ida schluckte schwer. Sie hatte etwas Bestimmtes im Kopf, wollte es aber nicht aussprechen.
»Nein, nein, auf keinen Fall.« Matteo schüttelte den Kopf. »Das ist ein kleiner Junge. Der hat bestimmt nichts Unrechtes im Sinn.« Sicher war sich der Maulwurf damit aber nicht.
Inzwischen war Jona fertig, legte sein Werkzeug zur Seite und griff nach dem Säckchen.
»Verdammt! Jetzt macht er es!« Matteo griff an seine Seite, wollte seine Kamera aus der Tasche ziehen, um für später die Beweise ablichten zu können, aber er griff ins Leere. »Mist. Ich hab sie in der Eile im Büro liegenlassen.«
»Ich kümmere mich darum. Ich sorge dafür, dass er uns nicht entkommt.« Ida griff zu ihrer eigenen Tasche und holte einen Bogen hervor. Sie legte ihren Mantel ab und zog sich einen Stachel aus dem Rücken. Sie spannte den Bogen und …
»Lass den Blödsinn. Gib ihm noch einen Moment.« Matteo legte ihr eine Hand auf ihre. Ida ließ enttäuscht den Bogen sinken. »Wenn der Junge uns entdeckt oder sich von dir bedroht fühlt, läuft er weg und wir klären diese Sache niemals auf.«
Natürlich hatte der Maulwurf Recht. Trotzdem mochte es Ida nicht, so untätig sein zu müssen.
Jona öffnete das Säckchen, griff hinein und holte etwas daraus hervor.
»Ist das etwa das, wonach es aussieht?« Ida stand der Mund weit offen. Sie hatte mir allem Möglichen gerechnet, nur damit nicht. In der Hand des Jungen lagen mehrere Schnuller, die er nach und nach in das Loch fallen ließ. Mit einem Handy machte er Foto und schickte es direkt weg.
Nun sah sich Matteo doch noch genötigt, aus seiner Deckung zu kommen. »Hey, Junge! Du kannst nicht einfach hier im Garten deine Schnuller vergraben. Die bestehen aus Plastik und verunreinigen die Umwelt.«
Jona blickte erschrocken auf und sah einen Maulwurf und einen Igel auf sich zulaufen.
»Hä? Wieso denn vergraben? Davon war nie die Rede. Außerdem sind das nicht meine Schnuller. Ich bin schon groß. Ich komme bald in die Schule. Ich brauche die Dinger schon ewig nicht mehr.« Er holte die Schnuller aus dem Loch heraus. »Die sind von meinen Freunden aus dem Kindergarten. Ich habe versprochen, wenn sie mit dem Nuckeln aufhören, dass ich die Schnuller beerdigen werde. Als Beweis habe ich ihnen Fotos geschickt. Da ich jetzt fertig bin, werfe ich sie in den Müll, wie sich das gehört und mache das Loch wieder zu. Das mache ich immer so.«
Matteo strich sich mit der Hand über den Kopf. Es war ihm irgendwie peinlich, dass er hier im Garten mit einem Verbrechen gerechnet hatte, aber stattdessen Jona bei etwas wirklich Gutem gestört hatte. »Ähm, ja … so ist das also. Hm. Dann lass dich nicht weiter stören. Wir müssen eh zurück ins Büro. Dort wartet noch ein Frühstücksbrötchen auf mich.«
»Und auf mich wartet meine Mama vor dem Garten. Die wird mir niemals glauben, was ich hier gerade erlebt habe.« Jona winkte zum Abschied und machte sich auf den Weg.

(c) 2025, Marco Wittler

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