1536. Der Walnussbaum

Der Walnussbaum

Wie an jeden Morgen führte Walters Weg vom Schlafzimmer in die Küche, wo er sich einen frischen Kaffee aufbrühte, mit dem er es sich anschließend in seinem kleinen Erkerzimmer gemütlich machte. Von hier aus hatte den besten Ausblick in seinen penibel gepflegten Garten und den Walnussbaum, der im Zentrum der Wiese wuchs.
Im Winter glitzerten die Äste im Licht der aufgehenden Sonne, wenn sie von Schnee und Eis bedeckt waren, im Frühling war voller Blüten und im Sommer wuchsen langsam die Früchte heran. Nun war es aber Herbst geworden und schon bald würde Walter die Ernte einholen, damit er an Weihnachten prall gefüllte Schüsseln auf den Gabentisch stellen konnte.
Plötzlich fiel Walter etwas ins Auge. In einem der Büsche hatte sich etwas bewegt. Nur einen Augenblick später flitzte ein Tier wie ein roter Blitz über die Wiese und kletterte am Walnussbaum hinauf.
»Eichhörnchen.« Walter wollte seinen Augen nicht trauen, aber es war tatsächlich da. »Eichhörnchen!« Er wurde lauter und fixierte das kleine Tier mit seinem Blick. »Ein Eichhörnchen hat sich unerlaubten Zutritt zu meinem Garten verschafft und will mir meine Walnüsse klauen.« Mittlerweile schrie Walter. Er sprang aus seinem Sessel auf, stieß dabei seinen Kaffeebecher um und stürmte zur Gartentür. Er riss sie auf, lief auf seinen Baum zu und wedelte mit den Armen über seinem Kopf hin und her. »Husch! Husch! Weg da! Hörst du nicht? Verschwinde sofort von hier. Das sind meine Nüsse.«
Das Eichhörnchen erschrak. Trotzdem schnappte es sich mit seinem Maul eine der Walnüsse, um damit in die Sicherheit der nahen Büsche zu flitzen.
»Und kommt bloß nicht wieder. Das ist mein Baum und ich werde ihn vor die beschützen.«
In den nächsten Tagen wiederholte sich dieses Schauspiel immer wieder und immer öfter. Das Eichhörnchen schlich sich in den Garten und Walter rannte hinterher, um es zu vertreiben.
Walter fiel es mittlerweile schwer, nachts in den Schlaf zu finden. Sobald er die Augen schloss, sah er rotes Fell vor seinem inneren Auge und träumte ununterbrochen von gefräßigen Nagetieren, die seinen Garten komplett kahl fraßen, dass nicht einmal mehr der Rasen verschont blieb.
Die Zeit verging. Irgendwann hatte Walter es satt, seinen Baum rund um die Uhr verteidigen zu müssen. Er wollte endlich wieder seine Ruhe haben. Also holte er seine Leiter und einen großen Eimer aus dem Schuppen und erntete, was das Eichhörnchen noch übrig gelassen hatte. Die Walnüsse verstaute er in einer gut gesicherten Kiste, an die er ein Schloss hängte. »Ja, ich weiß, dass Eichhörnchen keine schweren Kisten öffnen oder durch Türen in Keller eindringen können, aber ich gehe trotzdem auf Nummer Sicher. Man weiß ja nie.«
Die Wochen vergingen. Mit dem Dezember kam der Winter und mit dem Winter der erste Schnee. Am Weihnachtsabend saß Walter mit seiner Familie gemeinsam am Tisch. Sie hatten bereits gegessen und waren nun dabei, die Geschenke auszupacken, als ihm etwas einfiel.
»Ach, wisst ihr was? Heute ist Weihnachten und da soll man nicht nur an sich und seine Verwandten und Freunde denken. An Weihnachten sollte man auch andere nicht aus dem Kopf verlieren. Ich denke, ich habe da noch etwas zu erledigen. Ich war im Herbst nämlich überhaupt nicht nett. Vielleicht kann ich das jetzt wiedergutmachen.«
Entschlossen griff er nach der Schale mit den Walnüssen, band eine rote Schleife um sie und ging zur Gartentür. Als er sie öffnete staunte er nicht schlecht. Direkt vor seinen Füßen saß das kleine Eichhörnchen und blickte ihm direkt in die Augen. Zwischen den Krallen seiner Pfoten hielt es eine Walnuss, die es Walter hinstreckte.
»Oh nein, wie putzig bist du denn?« Walter musste grinsen. So etwas Süßes hatte er noch nie erlebt. Doch dann wurde er schnell wieder ernst. Er wollte diesen besonderen Moment nicht zerstören.
»Du bist also gekommen, den Krieg zwischen und zu beenden und mir ein Friedensgeschenk zu machen?«
Er hatte das Gefühl, als würde das kleine Tier kaum merklich nicken. Es kam sogar einen Schritt näher. Walter legte die Stirn in Falten, dachte nach. »Du warst ein ebenbürtiger Krieger, mein Freund. Es war mir eine Ehre, meine Ernte gegen dich zu verteidigen, auch wenn ich jede Schlacht verloren habe.« Er hockte sich hin. »Ich nehme dein Angebot an. Ich danke dir.«
Walter nahm vorsichtig die Walnuss aus den Pfoten des Eichhörnchens und steckte sie in seine Hosentasche. »Als Zeichen meiner Dankbarkeit möchte ich dir nun auch etwas überreichen, das uns neue Freundschaft besiegeln soll.« Er stellte die volle Walnussschale auf den Boden der Terrasse. »Sie gehören alle dir. Ich hoffe, du kommst damit gut durch den Winter.«
Das Eichhörnchen flitzte vor Freude mehrmals um die Schüssel, bevor es sich die erste Nuss schnappte und damit die Terrasse verließ.
»Und komm bitte im Herbst wieder.«, rief Walter dem kleinen Tier nach. »Ab jetzt darfst du meinen Baum plündern, so oft und viel du willst.«
Er wartete noch, bis das Eichhörnchen verschwunden war, dann trat er wieder ins Haus.
»Ist alles in Ordnung, Papa?«, wollte seine Tochter wissen. »Was ist da draußen passiert?«
Walter sah sich um, runzelte die Stirn. »Da draußen? Nichts. Da ist rein gar nichts passiert. Ich habe nur einem alten Freund eine kleine Freude gemacht.«
Er schmunzelte, während er wieder am Tisch Platz nahm und konnte sein Lächeln für den Rest des Abends nicht mehr ablegen.

(c) 2023, Marco Wittler

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