1664. Die Wichteltür

Die Wichteltür

Emilia legte die Spielzeugautos zur Seite. Es wurde Zeit, etwas zu trinken. Sie lief ins Wohnzimmer. Do bevor sie zur Trinkflasche greifen konnte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Nanu? Was ist denn das?«
Sie zeigte auf eine kleine Tür, die nicht viel größer als eine Kinderhand war. Sie befand sich direkt über der Fußleiste in der Raumecke. Daneben war ein Fenster, das man gut als winzig bezeichnen konnte.
»Die war da aber vorhin noch nicht, oder?«
Mama, die es sich mit einer Kuscheldecke auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte und einem lecker duftenden Tee trank, schüttelte den Kopf.
»Die ist ganz neu. Hier ist gerade eine kleine Wichteldame eingezogen. Sie hat gefragt, ob sie eine Weile bei uns bleiben kann. Über Weihnachten wird ihr Häuschen im Wald renoviert und sie kann in der Zeit nicht dort bleiben.«
Emilia riss die Augen auf. »Eine Wichteldame? Und ich hab den Einzug verpasst? Ich will sie unbedingt sehen und kennenlernen. Ob ich mal anklopfen darf? Vielleicht kommt sie raus und möchte ein wenig mit mir spielen.«
Mia setzte sich in die Ecke, warf einen Blick durch das Fenster und wollte gerade klopfen, als ihr Mama eine Hand auf die Schulter legte.
»Du bist aber ganz schön neugierig. Du weißt doch, dass man sowas nicht macht. Möchtest du, dass einfach jemand bei dir ins Zimmer schaut? Gib der Wichteldame ruhig etwas Zeit, bis sie sich bei uns eingerichtet und eingelegt hat. Vielleicht mag sie dann auch mal nach draußen kommen.«
Die Tage vergingen. Emilia warf jeden Morgen einen Blick ins Wohnzimmer. Die Wichteldame war nie zu sehen, aber sie schien es sich in ihrer Ecke immer gemütlicher zu machen. Vor der Tür lag mittlerweile eine Fußmatte. Vor dem Fenster hing nun ein bunter Blumenkasten. Am Boden stand ein winziger Tisch mit Stühlen. Dort musste die neue Bewohnerin wohl gefrühstückt haben, denn Brettchen, Messer und eine leere Tasse standen noch dort.
Irgendwann entdeckte Emilia erste Spuren auch im Rest der Wohnung. Im Bad lag ein achtlos auf den Boden geworfenes Handtüchlein. Auf der Arbeitsplatte war eine Packung Mehl umgefallen, von der kleine, weiße Fußabdrücke fort führten. Vor dem Katzenklo stand ein kleines Warnschild. Darauf war geschrieben, dass man sich nicht nähern sollte, weil es hier eklige Stinkbomben geben sollte. Nur die Wichteldame war kein einziges Mal zu sehen gewesen.
»Ich habe mal gehört, dass Wichtel vor allem in der Nacht aktiv sind. Sie schlafen am Tag. In der Dunkelheit kann man sie nämlich nicht so gut sehen. Das ist dann im Wald, wo es Raubtiere gibt, etwas ungefährlicher.«
Der Heiligabend war gekommen. Emilia saß seit dem frühen Morgen pausenlos in der Wohnzimmerecke. »Sie muss doch irgendwann da raus kommen. Weihnachten ist bald vorbei. Wenn sie dann zurück in ihren Wald geht und ich sie nicht ein einziges Mal getroffen habe, werde ich sehr traurig sein.«
Das ging nun schon seit ein paar Stunden so. Emilia wurde immer unruhiger. Hätte sie bloß nicht so viel von der Apfelschorle getrunken. »Mama? Kannst du hier für mich aufpassen? Ich muss ganz dringend zur Toilette.« Sie wartete keine Antwort ab, sondern lief sofort los.
Mama überlegte. Was sollte sie jetzt machen? Als sie zu Beginn der Adventszeit die Wichteltür an der Wand angebracht hatte, hielt sie das für eine lustige Idee. Dass ihre Tochter aber nun enttäuscht war, hatte sie nicht gewollt. Wo sollte sie nun eine echte Wichteldame finden? Sie öffnete alle Schränke und Schubladen, suchte verzweifelt nach einer Lösung. Alles, was sie fand, war ein altes Fernglas.
»Hm. Moment mal. Ich hab da eine Idee.« Sie blickte durch die Gläser, sah alles stark vergrößert. Dann drehte sie ihren Fund um. Nun war alles winzig klein. »Wenn ich doch nur …«
Mama lief schnell ins Schlafzimmer, zog sich ihre rote Latzhose an, an die sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, setzte sich eine dicke Mütze auf und ging zurück. Sie überlegte nicht lange, sondern sprang auf das Fernglas zu, schlüpfte hindurch und kam winzig klein auf der anderen Seite wieder heraus. Sie setzte sich an den Wichteltisch und wartete. In diesem Moment tauchte Emilia wieder auf. »Mama, du hast nicht aufgepasst, ich hab dich doch … oooooooh!«
Emilia kam langsam näher. Da war sie. Da saß die Wichteldame. »Hallo!«, rief die kleine Unbekannte. »Ich bin die Flora. Magst du mit mir einen Kakao trinken?«
Sie griff zu einer Tasse, die so klein war, dass man sie kaum erkennen konnte und zeigte auf eine große Tasse, die etwas abseits stand.
Gemeinsam tranken sie. Sie erzählten sich lustige Witze, spannende Geschichten aus dem Wald und dem Kinderzimmer. Den ganzen Nachmittag verbrachten sie in der Ecke und hatten Spaß miteinander. Dass es Mama war, die da in der Latzhose steckte, fiel Emilia gar nicht auf. Sie war einfach viel zu glücklich, die lang gesuchte Mitbewohnerin getroffen zu haben.

(c) 2024, Marco Wittler

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